Dörfer und Deputierte
Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise)
Author(s)
Stockinger, Thomas
Collection
Austrian Science Fund (FWF)Language
GermanAbstract
The manuscript deals with the elections to the Austrian Constituent Diet in June 1848, compared with those to the French National Assembly in April of the same year, with a focus on the dissemination of new concepts and practices of politics – particularly electoral and representative politics – in rural areas. The approach is based on concepts from the debate on the “politicisation” of rural populations which has been conducted in France during the past decades. To facilitate a detailed analysis closely based on primary sources, the study is limited to the province of Lower Austria (excluding Vienna) and the former department of Seine-et-Oise, surrounding Paris. The manuscript is based on a dissertation accepted in 2010, which has been revised in both content and form. Additional archival research in France in January and February 2011 has allowed an augmentation of the primary source basis.
After a summary of theoretical and methodical positions regarding the use of international comparison, a brief presentation of the debates on “politicisation” is intended to familiarize the reader both with the concept and with recent criticisms of it (Chapter 2). The resulting approach is based on the idea not of “politicization” versus a prior “apolitical” condition of rural populations, but rather of a complex of interconnected but not identical shifts in rural concepts and practices of politics.
In a first section, demographic, economic and social conditions of the two regions are presented and compared (Chapter 3), as are intellectual preconditions regarding mobility, literacy, religious behavior, and prior experiences with political participation (Chapter 4). The revolutions of 1848 are described with particular attention devoted to the forms they took in rural areas (Chapter 5).
The legal and normative framework of the elections is compared in detail, as are administrative prepa¬rations and the processes of electoral information (Chapter 6). These are viewed as efforts by which models of electoral politics, proposed by new and old political elites in both countries, were put before the populations using the power and communicative resources at the disposal of the elites. The elections themselves are first closely described under their procedural aspect; then an analysis of voting behaviour is attempted (Chapter 7). These multiple perspectives demonstrate that divergent notions of the meaning and function of elections competed, but also intermixed. This concerns not only rivalry between the elite-proposed models described in Chapter 6, but also their meeting with concepts held by members of the wider population. In Lower Austria, large numbers of rural voters either rejected or, more frequently, reinterpreted and subverted the proposed electoral model on the basis older practices of political articu¬lation predicated on a corporate subdivision of society. In Seine-et-Oise, behaviors pointing to divergent notions of election are comparatively marginal next to a widespread acceptance of the proposed model.
Although the two cases studied differ considerably from one another, and both have only quite limited resemblance to late 20th-century ideals of democratic elections, both can be situated within a complex history of the gradual displacement of older concepts of elections specifically and of politics in general by elements of those familiar in the present. Die Untersuchung befasst sich mit den Wahlen zum konstituierenden Reichstag in Österreich im Juni 1848 im Vergleich mit jenen zur konstituierenden Nationalversammlung in Frankreich im April 1848, und zwar unter dem Blickwinkel der Verbreitung neuer – vor allem elektoraler und repräsentativer – Politikvor¬stellungen im ländlichen Raum. Dem Ansatz liegen Begrifflichkeiten der in Frankreich seit längerem geführten Debatte um die „Politisierung“ der Landbevölkerung zugrunde. Die räumliche Beschränkung auf das Land Niederösterreich (ohne Wien) sowie das Umland von Paris, das ehemalige Département Seine-et-Oise, ermöglicht eine quellennahe Darstellung. Es handelt sich um eine inhaltlich und formal überarbeitete Fassung einer im September 2010 approbierten Dissertation; zusätzliche Archivforschungen in Frankreich im Januar/Februar 2011 haben eine Vervollständigung der Quellenbasis erlaubt.
Nach der Darlegung theoretisch-methodischer Positionen zur Anwendung des international vergleichenden Ansatzes folgt eine kurze Wiedergabe der Debatten um die „Politisierung“ einschließlich neuerer Kritiken an diesem Konzept (Kapitel 2). Als Ergebnis wird der Ansatz formuliert, nicht von einer „Politisierung“ gegenüber einem „apolitischen“ Ausgangszustand der ländlichen Bevölkerungen auszugehen, sondern von einem komplexen Bündel differenziert zu analysierender Wandlungen ländlicher Politik.
In einem ersten Teil erfolgt eine komparative Darstellung der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der beiden Untersuchungsräume (Kapitel 3), weiters der kulturellen und mentalen Voraussetzungen der Bevölkerungen hinsichtlich Mobilität, Alphabetisierung, religiösen Verhaltens sowie der Erfahrungen mit politischer Partizipation (Kapitel 4). Eine knappe Darstellung der Revolutionen von 1848 in beiden Gebieten fokussiert ihre Erscheinungsformen im ländlichen Raum (Kapitel 5).
Ausführlich verglichen werden die Rechtsgrundlagen der beiden Wahlen, Vorgänge der administrativen Vorbereitung sowie der Wahlwerbung (Kapitel 6). In ihnen werden Modelle elektoraler Politik gesehen, welche von neuen und alten politischen Eliten in beiden Staaten angesichts der revolutionären Situation entworfen und mit den ihnen verfügbaren Kommunikations- und Machtmitteln an die Bevölkerungen herangetragen wurden. Der Wahlvorgang wird zunächst in seiner prozeduralen Dimension geschildert, bevor eine Analyse der Wahlentscheidungen versucht wird (Kapitel 7). Auf diesem Wege wird gezeigt, dass unterschiedliche Vorstellungen zu Sinn und Funktionsweise von Wahlen konkurrierten und sich vermischten. Dies betrifft Divergenzen zwischen den in Kapitel 6 analysierten Modellen der Eliten, aber auch deren Aufeinandertreffen mit in der breiteren Bevölkerung präsenten Vorstellungen. Dies ist in Niederösterreich gut zu beobachten, dessen ländliche Wähler das Wahlmodell ausgehend von älteren Praktiken der Interessenartikulation, die auf ständischer Gliederung der Gesellschaft beruhten, teils ver¬weigerten, teils umfunktionierten; in Seine-et-Oise sind Verhaltensweisen, die für abweichende Vor¬stellungen von Repräsentation und Wahlen sprechen, in marginalem Ausmaß neben einer weitgehenden Akzeptanz des von den Eliten vorgegebenen Modells zu finden.
Obwohl die Unterschiede zwischen den beiden Fällen beträchtlich sind und beide vom heute etablierten Idealbild demokratischer Wahlen erheblich abweichen, lassen sie sich in die Geschichte vielfältiger Veränderungen einordnen, in deren Verlauf ältere Vorstellungen vom Wählen im Besonderen, von Politik im Allgemeinen allmählich durch Elemente heute bekannter Modelle verdrängt wurden.